Gutenberg und die Barrierefreiheit
Grundsätzlich legen die Macher von WordPress Wert darauf, dass die Software auch für Menschen mit Beeinträchtigungen gut zu bedienen ist. Der Editor Gutenberg scheint diesbezüglich noch problematisch zu sein.
Dass zumindest im öffentlichen Raum eine barrierefreie bauliche Gestaltung mittlerweile vorgeschrieben ist hat dazu geführt, dass dieses wichtige Thema mehr und mehr auch in das Bewusstsein von Personen rückt, die nicht von einer Beeinträchtigung betroffen sind.
Wahrscheinlich geht es vielen anderen auch so wie mir. Aufgrund des gesteigerten Bewusstseins fallen mir als Nicht-Betroffenen heute so manches Mal beispielsweise für Rollstuhlfahrer unüberwindliche Hindernisse auf – was ich zugegebenermaßen vor einigen Jahren noch nicht bemerkt hätte.
Dass solche Hindernisse eingebaut wurden hat – nehme ich zumindest einmal an – nichts mit Ignoranz zu tun sondern lediglich mit fehlendem Bewusstsein der Problematik (zumindest war und ist das bei mir so und ich möchte da niemandem Boshaftigkeit unterstellen).
Wenn es um die architektonische Gestaltung geht so hat das Verständnis für die Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigungen meiner Wahrnehmung nach in den letzten Jahren rapide zugenommen.
Ein Bereich, in dem dieses Verständnis noch wesentlich weniger ausgeprägt ist, ist meiner Meinung nach die Barrierefreiheit im Web. Ehrlicherweise gebe ich zu, dass ich selbst mich bisher auch noch so gut wie gar nicht mit diesem Thema beschäftigt habe.
Für eine Software wie WordPress, die von vielen Millionen Menschen benutzt wird, ist es natürlich überaus wichtig, dass auch auf Barrierefreiheit geachtet wird.
Aus dem Grund gibt es bei WordPress auch ein eigenes Team, das sich speziell um dieses Thema kümmert – das Accessibility-Team. Es gibt eine umfangreiche Dokumentation, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit neue Funktionen in den Kern von WordPress aufgenommen werden.
Mit #gutenberg scheint es da aber immer noch zu haken. Und das nicht einmal drei Wochen vor dem angestrebten Veröffentlichungstermin von #wpversion 5.0
Anfang Oktober hat die Leitern des Accessibility-Teams Ihre Funktion niedergelegt. Ihre Entscheidung begründet Sie in einem Blog-Beitrag. Im Wesentlichen geht es darum, dass sie angesichts der vielen noch ungelösten Probleme von Gutenberg in Bezug auf die Barrierefreiheit resigniert hat.
Ein neuer Team-Leiter war offensichtlich schnell gefunden. Dennoch ist eine solche Entwicklung kurz vor einem so großen Meilenstein wie dem lange angekündigten Erscheinen von WordPress 5.0 unangenehm und trägt nicht gerade dazu bei, das ohnehin im Vorfeld bereits angeschlagene Image des neuen Editors Gutenberg zu verbessern.
Und vorgestern erst hat das Accessibility-Team eine Stellungnahme zum Status von Gutenberg veröffentlicht. Der Artikel ist sehr lang und ausführlich. Zwar ist man ganz offensichtlich um positive Formulierungen bemüht aber die Kritik ist nicht zu übersehen.
Im folgenden zitiere ich einige Aussagen aus dieser Stellungnahme. Ich habe die Zitate übersetzt, der Text kann im Original im Blog des Accessibility-Teams nachgelesen werden.
Auszüge aus der Stellungnahme des Accessibility-Teams zum Status von Gutenberg vom 29. Oktober
Am 3. Oktober wurde der Zeitplan für WordPress 5.0 vorgeschlagen. Davor war das Accessibility-Team nicht auf einen Release-Zeitrahmen aufmerksam gemacht worden und hatte keinen Grund zu der Annahme, dass WordPress 5.0 und der Gutenberg-Editor unter Zeitdruck standen. (…)
Wir möchten bestätigen, dass das Gutenberg-Team sehr hart gearbeitet hat und viele der wichtigen Probleme im Zusammenhang mit der Barrierefreiheit gelöst hat, die das Accessibility-Team während der Entwicklung angesprochen hat. (…) Trotz dieses Engagements (…) bleibt Gutenberg ein System, das die Benutzer vor erhebliche Herausforderungen stellt. (…)
Ganz oben auf unserer Liste sehen wir, dass die Erfahrung für Benutzer mit dem Bedarf an Barrierefreiheit insgesamt ein Rückschritt in der Barrierefreiheit ist. Dies ist auf die Komplexität der Benutzerschnittstelle (…) zurückzuführen. (…)
Das ständige Wechseln der Steuerelemente ist insbesondere für Benutzer von Bildschirmleseprogrammen verwirrend, da sie nicht visuell erkennen können, wenn etwas nicht mehr in der Benutzeroberfläche verfügbar ist. Die Benutzung des klassischen Editors war linear und in einem einzigen Block enthalten. Die Steuerelemente befanden sich an einer einzigen festen Stelle auf der Seite. Dies bietet eine Vorhersagbarkeit, die nun in der
Benutzeroberfläche nicht mehr vorhanden ist. (…)
Dieses Problem wurde regelmäßig von Benutzern von Bildschirmleseprogrammen gemeldet, es wurde aber nicht effektiv gelöst. Anstatt sich mit dem spezifischen Problem zu beschäftigen (…) wurden neue Tools hinzugefügt, um einen anderen alternativen Modus zum Navigieren zwischen Blöcken anzubieten. (…)
Darüber hinaus verhalten sich einige Steuerelemente der Symbolleiste anders als andere. Dadurch entsteht der Eindruck, dass sich der Fokus willkürlich bewegt, weil ein Benutzer nicht ohne weiteres vorhersagen kann, was beim Auslösen dieser Steuerelemente geschieht. (…)
Die Möglichkeit, durch ein Dokument zu navigieren, ist ein Schlüsselelement des Bearbeitungsprozesses. In der aktuellen Iteration von Gutenberg ist dies eine bedeutende Herausforderung. (…) Die Navigation durch Blöcke mit der Tastatur ist möglich, erfordert jedoch eine Vielzahl von Tastaturaktionen. (…)
Alle Autoren und Redakteure sind von diesen Änderungen betroffen. Administratoren, die für die Entscheidung, ob Gutenberg für ihre Websites geeignet ist, verantwortlich sind, müssen darüber informiert werden, dass sie für ihre Autoren inakzeptable Barrieren darstellen können. (…)
Kurzfristig hoffen wir, alle Probleme in Bezug auf die Barrierefreiheit zu lösen, die echte Hürden für die Verwendung von Gutenberg darstellen. Langfristig hoffen wir, die Integration von Barrierefreiheit in alle zukünftigen WordPress-Designprozesse zu verbessern.
Das Accessibility-Team wird weiterhin daran arbeiten, Gutenberg bestmöglich zu unterstützen. Aufgrund des aktuellen Status können wir jedoch nicht jedem, der assistive Technologien benötigt, empfehlen, ihn auf allen Websites zu benutzen (…)
Fazit
Die obigen Zitate sind wie bereits erwähnt nur ein kleiner Ausschnitt aus einer sehr umfangreichen Stellungnahme. Anzumerken ist, dass es dabei lediglich um die Bedienung des Gutenberg-Editors geht. Auf das Front-End von Websites dürfte es keinen Einfluss haben, wenn Gutenberg für die Erstellung von Artikeln verwendet wird.
Trotz aller Bemühungen um positive und versöhnliche Formulierungen ist die Kritik, die in diesem Artikel geäußert wird, meiner Meinung nach doch dramatisch.
Einerseits sind die Probleme in Bezug auf die Barrierefreiheit des Gutenberg-Editors offensichtlich noch so schwerwiegend, dass das Accessibility-Team Menschen mit entsprechenden Bedürfnissen von dessen Verwendung abrät – auch wenn sie das nett umschrieben haben.
Andererseits – und das halte ich für noch schwerwiegender – ist es ein sehr negatives Signal wenn sich ein Team aus einem Open-Source-Projekt genötigt sieht, mit solch einer Kritik an die Öffentlichkeit zu gehen.
Eine solche Art der öffentlichen Kritik aus den eigenen Reihen kennt man ansonsten eigentlich nur aus der Politik. Es ist sehr schade, dass so etwas bei einem Projekt wie WordPress anscheinend nötig ist.
Für die meisten Anwender wird Gutenberg meiner Meinung nach eine feine Sache. Der schale Beigeschmack, den das Projekt im Vorfeld erzeugt hat, wird aber wahrscheinlich bleiben.
Deshalb is es unverständlich, warum angesichts solcher Entwicklungen anscheinend nach wie vor an dem geplanten Veröffentlichungstermin von WordPress 5.0 festgehalten wird.